Der große Stiefel

Der Riese auf dem Großen Stiefel
Vor alten Zeiten wohnte einmal droben auf dem Großen Stiefel ein gräulicher Riese, der so stark war, daß er die stärksten Waldbäume wie Hanf ausreißen und Felsenstücke so groß wie kleine Häuser aufheben konnte, was man an dem Riesentisch dort an der Seite des Stiefels -gegen das Mühlthal hin - sehen kann, den er sich gemacht hat.
Der Riese lebte von Menschenfleisch und hieß Kreuzmann und zwar vielleicht deshalb, weil er den Menschen soviel Leid und Kreuz machte, da er doch ein gottloser Heide war. Von Zeit zu Zeit stieg er von seinem Berge herab in die Täler, wo die Bauern in Hütten wohnten, und raffte ohne Unterschied alle Menschen zusammen, deren er habhaft werden konnte und schleppte sie auf den Großen Stiefel, wo er sie in einen großen hölzernen Käfig einsperrte, bis er Hunger bekam. Die Leute sollen in dem Käfig oft so arg geschrieen haben, daß man es weithin habe hören können. Darüber habe sich der Riese aber gefreut und habe gesagt: „Wie schön meine Vögel pfeifen!“
Wenn er Hunger bekam und eine Mahlzeit halten wollte, nahm er einen oder mehrere Menschen heraus, um dieselben zu schlachten. Auf seinem Felsentisch verzehrte er sodann dieselben, nachdem er sie vorher auf der Felsenplaine, an deren Ende sein Tisch stand, gebraten hatte.
Lange Zeit trieb so der Riese sein Unwesen, da ermannten sich endlich die Leute, denen er doch bald zu arg machte, und beschlossen ihn anzugreifen. Man wartete den Zeitpunkt ab, da er eine Mahlzeit gehalten hatte, weil er gewöhnlich darauf einige Tage fest zu schlafen pflegte. Da taten sich die Leute zusammen und schleppten Stroh, Reisig und Gehölz um den Thurm, wo der Riese schlief, und zündeten es an, um denselben zu ersticken. Als der Rauch in das Gemach eindrang, wo der Riese schlief, wurde er aber von demselben wach und hielt ihn für einen etwas dicken Waldnebel. Der Rauch aber kitzelte den Riesen in der Nase, daß er plötzlich niesen mußte, was aber ein solches Getöse verursachte, daß die Leute erschrocken den Berg hinabflüchteten.
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Eines Tages – er traute seinen Augen nicht – kam ein kleines rothaariges Wesen den Hang zu seinem Riesentisch hinauf. „Die kommt mir gerade recht – ich habe schon so einen Hunger, daß mir der Magen grummelt. Er dachte: „Ich lasse sie noch etwas näherkommen, dann schlage ich zu“. – „Aber vorsichtig, sie ist vielleicht eine Hexe und verzaubert mich – vielleicht macht sie aus mir so einen kleinen Kobold, die in Erdhöhlen wohnen müssen und kaum das Tageslicht sehen. Außerdem müssen die auch für die faulen Menschen schuften und Kohle aus der Erde holen, die dann in diesem Eisenwerk – hier in der Nähe – Alte Schmelz, sagen sie, verfeuert wird.
Naja, so sinnierte er missmutig vor sich hin als plötzlich die „kleine Hexe“ - wie er dachte – ganz frech und freundlich rief: „Was machst Du alter Griesgram denn hier am Stiefel? – Bist Du etwa der Riese Kreuzmann, von dem Die Leute so schreckliche Geschichten erzählen. Du sollst Kinder oben auf dem Großen Stiefel schlachten und essen. Das kann doch nicht wahr sein, so schlimm ist auch kein Riese.“
Als das rothaarige Wesen dabei immer näherkam und dem grimmigen Riesen schon in die Augen sehen konnte, wurde es dem Kreuzmann ganz komisch ums Herz. So frech und freundlich hatte noch niemand mit ihm gesprochen. – Dieses kleine rothaarige Wesen hatte überhaupt keine Angst – sie schrie auch nicht und lief davon – wie Kreuzmann das kannte. Ehe er sich versah stand sie neben ihm und schaute ihm tief in die Augen – Kreuzmann war ganz unsicher – was sollte er machen? Nichts fiel ihm ein – kein Fluch – keine böse oder freundliche Geste. – Stumm versuchte er dem Blick dieser kleinen Hexe auszuweichen.
„Ist dein Bart echt – darf ich mal daran zupfen, warum stinken deine Füße so – wohl lange nicht gewaschen usw. – darf ich mal auf deinen Schoß? Bei meinem Opa darf ich das“?!
Ehe Kreuzmann sich versah, saß die kleine rothaarige Hexe auf seinem Schoß.
Kreuzmann schaute sie immer noch grimmig an und fragte dann knurrend: Wer bist Du denn, und wo kommst Du her?
„Ich bin die Leonie aus Hamburg und bin bei meinem Opa zu Besuch. Die Frau von meinem Opa – die Gerda – hat mir schon oft von dir erzählt. Sie hat mir auch erzählt, daß die Leute ganz grausame Sachen über dich berichten. Da habe ich mir gedacht, gehst sebst mal nach dem Kreuzmann gucken. So schlimm kann der gar nicht sein – das gibt`s doch nicht. Und jetzt bin ich hier. Ah, da kommt die Gerda schon. Die kann gut fotografieren. –
„Gerda, machst Du mal ein Bild von mir und dem Kreuzmann“?
So entstand das Bild vom Riesen Kreuzmann und der kleinen Hexe.

Der Riese Kreuzmann und die kleine Hexe aus Hamburg
Der Riese Kreuzmann saß nachmittags immer unterhalb des großen Stiefels und sah finster und missmutig ins Grumbachtal und in den kleinen Ort Sengscheid hinab.
Er fragte sich griesgrämig „Was haben die Bewohner dieser kleinen Ortschaft nur, daß sie zusammen fröhliche Feste feiern, sich am Brunnen versammeln, Bäume mit bunten Bändern aufstellen und Fässer leertrinken, aus denen eine komische Flüssigkeit fließt, die lustig macht. – Scheint ein fröhliches Völkchen zu sein, die gar keine Angst mehr vor mir haben.
So saß er grimmig und schlecht gelaunt am Hang und konnte sich nicht seines Lebens freuen.



